„Die Repression ist stärker und offener geworden“

REUTERS/Mahamat Ramadane
Verwandte und Angehörige versammeln sich Ende Oktober 2022 bei dessen Beerdigung um den Sarg von Oredje Narcisse. Der tschadische Journalist wurde zuvor bei einer Demonstration für Demokratie getötet.
Tschad
Der Militärrat im Tschad hat das Parlament und die Justiz weitgehend unter Kontrolle. Wie in dem Sahelland Menschenrechte missachtet werden und man dennoch Rechte einklagen kann, erklärt die Anwältin und Menschenrechtsverteidigerin Delphine Djiraïbé.

Delphine Djiraïbé ist Juristin und Anwältin. Sie hat 1991 die Vereinigung zur Förderung der Menschenrechte im Tschad mitgegründet und leitet nun das Public Interest Law Center, das im Tschad unter anderem Rechtshilfe leistet. Sie hat 2004 den Robert F. Kennedy-Preis für Menschenrechte erhalten und im Februar 2023 in Berlin den Martin-Ennals-Preis, den große Menschenrechtsorganisationen gemeinsam vergeben.
 Sie sind Anwältin und setzen sich in einem der ärmsten Länder der Welt für Menschenrechte ein. Welche Verstöße dagegen sind im Tschad das größte Problem? 
Das größte Problem ist, dass das Recht auf Leben ständig bedroht ist, denn die Machthaber töten in völliger Straflosigkeit. Aber auch Rechte wie die auf sichere Ernährung und eine menschenwürdige Wohnung, auf Gesundheitsversorgung und Bildung werden vielfach verletzt.


Wer begeht die meisten Menschenrechtsverletzungen? 
Für die meisten Tötungen ist im Tschad der Staat  verantwortlich. Die Sicherheitskräfte sind bewaffnet und schießen zum Beispiel auf Demonstrationen. Auch außerhalb von Protesten begehen sie immer wieder Übergriffe auf Zivilisten und nehmen ihnen Besitz weg. Und man muss betonen: Staatliche Sicherheitskräfte verteilen Waffen auch an mit ihnen verbundene Hirten, die dann unter dem Deckmantel der Konflikte zwischen Bauern und Hirten Menschen töten.  

Wer sind mit Sicherheitskräften verbundene Hirten? 
Da haben wir es nicht mit traditionellen Viehhaltern zu tun. Sondern Generäle oder Offiziere der Armee oder Gouverneure der Regionen, also der zweiten Verwaltungsebene, betreiben große Viehzucht aus Gründen des Prestiges. Und diese mächtigen Leute rekrutieren Hirten und bewaffnen sie. Die treiben dann die Herden ihrer Auftraggeber auf Felder von Landwirten, und wenn die protestieren, schießen die Hirten auf sie.  

Der Tschad wurde dreißig Jahre lang autoritär von Idriss Déby regiert. Nach dessen Tod ist ihm nun 2021 sein Sohn nachgefolgt. Werden seitdem die Menschenrechte mehr geachtet?  
Im Gegenteil, die Lage ist schlimmer geworden. Erstens haben wir es jetzt mit der Herrschaft einer Dynastie zu tun. Zweitens steht der junge Déby an der Spitze eines Militärrates, der Demonstrationen gewaltsam unterdrückt. Die Rechte, sich frei zu versammeln, zu demonstrieren, ja sich frei zu bewegen, werden systematisch eingeschränkt. Déby versucht mit allen Mitteln, sich an der Macht zu halten. Die Gewaltenteilung ist aufgehoben und alle Macht in der Hand des Militärrates und seines Präsidenten konzentriert. Demokratie oder der Rechtsstaat existieren nicht mehr. Im Parlament sitzen Gefolgsleute des Präsidenten und folgen seinem Willen. Als im Oktober 2022 große Demonstrationen für Gerechtigkeit und Demokratie organisiert wurden, hat Mahamat Déby das Militär auf die Leute schießen lassen. Mehr als 300 sind getötet worden.

War der Staat unter Idriss Déby tatsächlich toleranter oder ist der Unterschied, dass erst nach seinem Tod eine Protestbewegung erstarkt ist? 
Dasselbe System besteht weiter, aber früher war es verschleiert. Seit der Sohn übernommen hat, seine Herrschaft dem Volk aufzwingen will und das sich dem widersetzt, ist die Repression stärker und offener.

Sie setzen sich besonders für die Rechte von Frauen und Kindern ein. Wer verletzt die besonders? 
In einer Situation wie im Tschad, wo die Regierung Armut schafft und aufrechterhält, leiden die Frauen immer am meisten. Sie müssen für die Ernährung ihrer Familien sorgen, aber wenn sie das in bitterer Armut angehen, setzen sie sich Gewalttaten aus. Wenn sie zum Beispiel im Busch Feuerholz oder Gemüse suchen, werden sie angegriffen und vergewaltigt. Wir bieten solchen Frauen und Mädchen juristische Vertretung an, aber auch medizinische, wirtschaftliche und soziale Unterstützung und Schutz in Zufluchtsstätten.

Sie haben dafür das Public Interest Law Center in N‘Djamena gegründet. Wie will es Opfern von Menschenrechtsverletzungen juristisch den Zugang zu Gerichten erleichtern? 
Wir bilden in den Gemeinden Einzelne, die Französisch beherrschen und Lesen und Schreiben können, zu sogenannten Para-Juristen aus. Das heißt wir vermitteln ihnen Grundkenntnisse in Recht und Menschenrechten, so dass sie in ihren Gemeinden Leute, die juristische Hilfe suchen, beraten können. Fälle, für die ihre Kenntnisse nicht reichen, verweisen sie an unser Büro in N'Djamena und wir kümmern uns darum. Wir begleiten auch Opfer vor Gericht – auch mit medizinischer, psychologischer oder sozialer Hilfe. Soziale Hilfe bedeutet vor allem Ausbildung in Tätigkeiten, mit denen sie Einkommen erzielen können.

Sie klagen also auch für Opfer von Menschenrechtsverletzungen vor Gericht? 
Natürlich, wenn die einverstanden sind. Dabei kann es sich um Kriminalfälle handeln, aber auch um das Einklagen von Pensionszahlungen oder Unterhalt für Kinder. Das brauchen einfache Frauen am meisten. Wir wissen, wo man in solchen Fällen klagen oder Auskünfte bekommen kann, und die Frauen haben normalerweise nicht das Geld, einen Anwalt zu bezahlen. Wir begleiten sie, bis ein Urteil gefällt und auch durchgesetzt ist.

Sie haben gesagt, die Justiz existiere nicht mehr. Finden Sie Richter, die unabhängig nach dem Gesetz urteilen? 
Das ist schwierig. Aber wenn kein Interesse des Staates selbst auf dem Spiel steht, dann gelingt das oft. Allerdings arbeitet die Justiz sehr langsam. Die halbe Zeit sind Richter oder Justizbeamte im Streik. Die Richter, die der heutige Staatspräsident ernennt, werden praktisch alle zwei Monate ausgetauscht. Es entmutigt die Klägerinnen, dass Verfahren sich derart hinziehen. Aber in Fällen, die keine hohen Staatsbeamten betreffen, gelingt es uns, armen Frauen zu ihrem Recht zu verhelfen. In einem entlegenen Dorf hat zum Beispiel ein Mann seine Frau mit den Kindern sitzen gelassen, nachdem er eine Entschädigungszahlung im Rahmen eines Erdölprojekts erhalten hatte. Er hat anderswo wieder geheiratet. Wir haben erreicht, dass die verlassene Frau zum ersten Mal im Leben vom Mann Unterhaltszahlungen erhält, um sich und ihre Kinder zu ernähren.

Der Gang vor Gericht hilft aber kaum, wenn es zum Beispiel um Übergriffe von Sicherheitskräften geht? 
Ja, das ist sehr schwierig, da ist der politische Einfluss auf die Justiz sehr, sehr stark. Wir haben zum Beispiel Fälle, in denen die Söhne von hohen Amtsträgern Vergewaltigungen begangen haben. Wenn man dagegen vor Gericht zieht, gibt es ganz schnell ein Urteil, um in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, dass man die Täter bestraft. Aber am Tag nach dem Urteil lässt man die frei und schickt sie ins Ausland, wo sie unbehelligt leben.

Ist der Einsatz für Menschenrechte im Tschad gefährlich? 
Sehr gefährlich. Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger arbeiten unter lebensgefährlichen Bedingungen. Viele sind ermordet, rechtswidrig inhaftiert und im Alltag bedroht worden. Man wird auch ständig von der politischen Polizei verfolgt, wenn man nicht ins Exil geht.

Sind auch Para-Juristen an der Basis Schikanen ausgesetzt? 
Ja. Sie werden immer wieder bedroht, weil sie die Leute beraten und aufklären und diese dann mehr und mehr ihr Recht kennen und einfordern. Das gefällt dem Staat nicht. Gerade jetzt sitzt einer unserer Para-Juristen zusammen mit seinem minderjährigen Kind im Gefängnis und wird beschuldigt, die Leute seines Dorfes zu Aufruhr angestiftet zu haben. Wir haben Anwälte hingeschickt, aber wir können nicht einmal die Freilassung des Kindes erreichen.

Wie finanziert sich das PILC? 
Wir erhalten Geld von Partnern im Ausland, darunter Brot für die Welt, das seit 2011 die Menschenrechtsarbeit im Tschad unterstützt, und Misereor. Auch andere wie die Europäische Union und das National Endowment for Democracy in den USA unterstützen Projekte des PILC.

Sie waren die erste Frau im Tschad, die Anwältin geworden ist... 
Eine der ersten. Fünf oder sechs andere haben das vor mir geschafft.

Ist das für Frauen viel schwieriger als für Männer – werden Anwältinnen von Richtern oder denen, die sie vertreten, weniger respektiert? 
Ja. Generell wird die Frau im Tschad auf den zweiten Rang verwiesen und gilt als für die Hausarbeit bestimmt. Eine Frau muss doppelt so hart kämpfen wie Männer, um Anwältin zu werden und in der Gesellschaft und von Klienten akzeptiert sowie von Richtern respektiert zu werden. Das gelingt nur mit herausragenden Leistungen. Maître Thérèse Nadingar, die erste Anwältin im Tschad, musste sehr kämpfen, manchmal sogar physisch. Sie hat mir erzählt, dass einmal der Richter einen Klienten der Gegenseite ins Gefängnis bringen lassen musste, um andere von Angriffen auf Maître Nadingar im Gericht abzuschrecken. Sie hat den Weg für uns gebahnt. Jetzt gibt es dreißig vor Gericht zugelassene Anwältinnen im Tschad.

Gibt es auch Richterinnen? 
Ja. Und die sind in der Regel die besseren, weil sie auf ihre Unabhängigkeit achten. In der Generation, die demnächst in Ruhestand geht, gibt es nicht viele Richterinnen, aber die haben gezeigt, wie man unabhängig das Gesetz anwendet und sich Druck und Einflussnahme widersetzt.

Das Gespräch führte Bernd Ludermann. 

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